Die deutsch-ukrainischen Beziehungen im 20. Jahrhundert

Inhalt

In dieser Themenachse werden die kontroversen Fragen über Aktivitäten und Ideologie verschiedener ukrainischer Akteure und Gruppierungen vor und während des Zweiten Weltkriegs und ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen Deutschland untersucht. Damit sind die Projekte in dieser Themenachse eng mit den Projekten in der ersten und dritten Themenachse verknüpft.

Martin Schulze Wessel: Ukraine und Deutschland im 20. Jahrhundert

Über die Geschichte der Ukraine und Deutschlands im 20. Jahrhundert gibt es bislang keine umfassende Darstellung in monographischer Form. Heute sind beide Länder enge Partner, in den kommenden Jahren werden sich die Beziehungen zwischen Berlin und Kyiv durch den geplanten EU- und NATO-Beitritt der Ukraine vertiefen. Doch ist das historische Wissen über die Ukraine und die deutsch-ukrainische Geschichte in Deutschland schwach ausgeprägt - viel schwächer als im deutsch-polnischen Verhältnis, von den Beziehungen Deutschlands zu den westlichen Nachbarn ganz zu schweigen.

Hier setzt das geplante Buch an. Es will informieren und dazu beitragen, dass in der deutschen Öffentlichkeit ein kritisches Bewusstsein für die Geschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen entsteht. Es will in den politischen Diskurs einwirken und auch Impulse für die Schul- und Erwachsenenbildung geben. Das Buch stellt die deutsch-ukrainische Geschichte chronologisch mit bestimmten thematischen Schwerpunkten dar.

Gliederung

  • 1. Vorgeschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen im 20. Jahrhundert: die Wahrnehmung der Ukraine in den deutschen Territorien seit der Frühneuzeit
  • 2. Deutschlands imperiales Projekt im Osten und die Gründung des ukrainischen Nationalstaats 1918
  • 3. Weimarer Republik und ukrainisches Exil in Deutschland
  • 4. Deutschlands Krieg um „Lebensraum im Osten“, die Ukraine in den Jahrzehnten entfesselter Gewalt: 1933-1945
  • 5. Die deutschen Staaten und die Ukraine im Kalten Krieg: Offizielle Völkerfreundschaft zwischen der DDR und der Ukrainischen Sowjetrepublik, problematische Aufarbeitung der deutschen Verbrechen in der Ukraine in der Bundesrepublik
  • 6. Deutschland und die Ukraine seit 1991

Oleksandr Zaitsev: Ukrainische Nationalisten und Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren

Die Studie gliedert sich in zwei unterschiedliche Teile. Im ersten Teil wird die Beziehung zwischen den ukrainischen Nationalisten und dem Weimarer Deutschland in den 1920er und frühen 1930er Jahren untersucht. Mit „ukrainischen Nationalisten“ beziehe ich mich in erster Linie auf den radikalen Flügel der nationalistischen Bewegung, deren Ideologie, die maßgeblich von Dmytro Dontsov geprägt wurde, üblicherweise als „integraler Nationalismus“ bezeichnet wird.

Der zweite, umfangreichere Teil der Studie befasst sich mit einem der umstrittensten Themen der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: der Beziehung zwischen der ukrainischen nationalistischen Bewegung und Nazideutschland.

Während die Verbindungen zwischen der Ukrainischen Militärorganisation (UVO), der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der deutschen Reichswehr und Wehrmacht relativ gut erforscht sind, wurde den politischen und ideologischen Dimensionen dieser Zusammenarbeit weniger Aufmerksamkeit gewidmet. In den letzten Jahren hat das Thema durch die propagandistische Verwendung des „ukrainischen Nazi-Regimes“ durch Russland zur Rechtfertigung der Aggression gegen die Ukraine neue Bedeutung gewonnen.

Ziel des Projekts ist es, die Verbindungen zwischen der ukrainischen integral-nationalistischen (ultranationalistischen) Bewegung und den deutschen staatlichen und politischen Kreisen während der 1920er und 1930er Jahre mit besonderem Schwerpunkt auf ihrer Beziehung zum Nationalsozialismus zu untersuchen. Dazu gehört die Analyse der Einstellung der ukrainischen Nationalisten gegenüber dem Nationalsozialismus, ihre Interaktionen mit dem NS-Regime und die Frage, ob sie Aspekte der NS-Ideologie, Organisationsprinzipien und Methoden übernahmen oder ablehnten. Die Studie konzentriert sich auf die OUN, ihre Vorgängerorganisation UVO und andere Schlüsselfiguren und -organisationen, darunter Dmytro Doncov und seine Zeitschrift Vistnyk sowie Dmytro Palijivs Front der Nationalen Einheit (FNJe), die bisher kaum wissenschaftlich untersucht worden ist.

Dieses Projekt versucht, über die polarisierte Sichtweise hinauszugehen, den ukrainischen integralen Nationalismus entweder als faschistisch/nazistisch oder als Teil eines legitimen nationalen Befreiungskampfes zu betrachten. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass sowohl die europäische „Epoche des Faschismus“ als auch der ukrainische Unabhängigkeitskampf entscheidende Kontexte waren, um die Entwicklung des ukrainischen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit zu verstehen.

Es wird ein breites Spektrum an Quellen verwendet, darunter Ego-Dokumente (Korrespondenz, Tagebücher, Memoiren), politische und ideologische Schriften von ukrainischen Nationalisten wie Dmytro Doncov, Mykola Scibors‘kyJ, Volodymyr Martynec‘ und Yevhen Onac‘kyj sowie Schriften von nationalsozialistischen Ideologen. Analysiert werden sowohl offizielle, von der OUN und der FNJe kontrollierte Publikationen wie Rozbudova Naciji, Naš Klyč, Probojem, Nove Selo, Homin Basejnu, Peremoha und Ukrains‘ki Visti als auch interne Dokumente wie Mychajlo Kolodzinskyjs „Militärdoktrin der ukrainischen Nationalisten“ und analytische Berichte, die innerhalb der OUN-Führung zirkulierten. Die meisten dieser Materialien wurden vom Autor in Archiven und Bibliotheken in der Ukraine und in Polen gesichtet. Weitere Forschungen werden sich auf das kürzlich entdeckte „Senyk-Archiv“ (Dokumente der OUN-Führung) im Zentralen Staatsarchiv der Ukraine in Lviv konzentrieren.

Natalja Böhm: Kontakte, Konflikte und Kooperationen: Deutsch-ukrainische politische Netzwerke und ihre Akteure zwischen Erstem Weltkrieg und früher Bundesrepublik

Das Forschungsprojekt untersucht die komplexen Beziehungsgeflechte zwischen deutschen und ukrainischen Akteuren von 1917 bis in die 1950er Jahre, wobei Hans Koch als zentrale Figur im Mittelpunkt steht. Als Theologe und Osteuropahistoriker, der selbst in der Ukrainischen Galizischen Armee gekämpft hatte und später Major der Wehrmacht wurde, verkörpert Koch exemplarisch die Ambivalenz der deutsch-ukrainischen Beziehungen dieser Epoche. Seine vielfältigen Kontakte zu ukrainischen Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Wissenschaft ermöglichen einen einzigartigen Einblick in die Dynamik der Netzwerkbildung.

Die Analyse konzentriert sich auf zwei zentrale Dimensionen: Erstens die persönlichen Netzwerke zwischen deutschen und ukrainischen Akteuren und zweitens die institutionellen Verflechtungen. Das Projekt zeichnet nach, wie sich diese Netzwerke über verschiedene historische Phasen entwickelten: von der deutschen Besatzung der Ukraine 1918 über die Weimarer Republik und NS-Zeit bis in die frühe Nachkriegszeit. Dabei wird deutlich, wie persönliche Beziehungen, politische Interessen und ideologische Überzeugungen ineinandergriffen und die deutsch-ukrainischen Beziehungen prägten.

Die Forschung stützt sich auf bisher wenig beachtete Archivbestände, private Nachlässe und Korrespondenzen. Sie ermöglicht neue Einblicke in die Motivationen und Handlungsspielräume der beteiligten Akteure, insbesondere in die Rolle von Institutionen wie dem Ukrainischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin und der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft. Die Ergebnisse tragen zu einem differenzierteren Verständnis der deutsch-ukrainischen Beziehungen bei und zeigen, wie persönliche Netzwerke die politischen Entwicklungen bis weit in die Nachkriegszeit hinein beeinflussten. Die Analyse der Kontinuitäten und Brüche in den deutsch-ukrainischen Netzwerken über verschiedene politische Systeme hinweg verspricht neue Erkenntnisse über die Komplexität transnationaler Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Yuri Radchenko: Die OUN (m) und Nazi-Deutschland 1940-1945

Die Ereignisse, die im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) stehen, ziehen die Aufmerksamkeit zahlreicher Forscher, Publizisten, Politiker und Agitatoren auf sich. Viele wissenschaftliche Texte befassen sich mit der Beteiligung der OUN unter der Führung Stepan Banderas an der Verfolgung und den Massakern an der jüdischen, polnischen und der „illoyalen“ ukrainischen Bevölkerung. Es existieren auch Forschungen über Taras Borovec‘ (Bulba) und seine Bewegung. Wissenschaftliche Untersuchungen über die OUN unter der Führung von Andriy Mel'nyk in dieser Hinsicht gibt es hingegen nicht. Auch die Persönlichkeit von Stepan Bandera erregt großes Interesse. Obwohl nicht viele wissenschaftliche Studien zu seiner Biografie existieren, ist die Liste der Propagandaliteratur und Filme in der Tat beachtlich. Die Biografie von Andriy Mel'nyk hingegen ist (abgesehen von einigen wenigen Propaganda-Publikationen) nahezu unerforscht.

Die Bandera OUN fühlte sich den europäischen rechtsradikalen Parteien und den Bewegungen der staatenlosen Gesellschaften verbunden. So unterhielt die Bandera-Gruppe beispielsweise in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit gute Beziehungen zur kroatischen Ustascha. Wie standen die OUN (m) und Andriy Mel'nyk zu den Ustaschi und ihrem Führer Ante Pavelič?

Es ist bekannt, dass die OUN (b) und die OUN (m) im Sommer 1941 antisemitische Propaganda betrieben. Zu dieser Zeit kam es zu einer Reihe von Pogromen in Galizien und Wolhynien, an denen auch radikale ukrainische Kräfte beteiligt waren. Der Großteil der Forschung konzentriert sich auf die Beteiligung der OUN (b) an den Pogromen. Doch welche Rolle spielten die Anhänger Mel'nyks bei der Verfolgung und Ermordung der Juden im Jahr 1941? Andriy Mel'nyk lehnte während der Revolution von 1917-1921 Pogrome ab und versuchte, sie zu verhindern. Doch 1941 rief seine Organisation zum Mord an Juden auf. Wie hat sich diese politische Entwicklung innerhalb von 20 Jahren vollzogen? Was hat sie beeinflusst?

In den Darstellungen der Anhänger Mel'nyks über ihre Gruppierung, die in der Nachkriegszeit entstanden, wird meist behauptet, Mel‘nyk sei 1941 in Berlin „isoliert“ gewesen und habe keinen Einfluss auf die Ereignisse in der Ukraine gehabt. Was sagen die verfügbaren Quellen zu dieser Thematik aus? Welche Haltung hatte Andrij Mel'nyk zu den Pogromen im Sommer 1941? Wie war sein Verhältnis zu Nazi-Deutschland in dieser Zeit?

Ende 1941, Anfang 1942 begannen die Deutschen Repressionen gegen Mitglieder der OUN (m) auszuüben. In Kiew beispielsweise wurde eine Gruppe von Mel'nyk-Anhängern erschossen, darunter die Dichterin Olena Teliha und der Journalist Ivan Rogač. Wie reagierte Andrij Mel'nyk auf die Ermordung seiner Parteifreunde?

Ende 1942, Anfang 1943 stellte die OUN (b) ihre Einheiten von bewaffneten Aufständischen auf. Zu dieser Zeit versuchten auch die Anhänger von Mel'nyk, eine Armee aufzustellen. Im März 1943 desertierte eine beträchtliche Anzahl von Polizei-Angehörigen in Wolhynien, um sich den Aufständischen der OUN (b) anzuschließen. Schlossen sich manche der ehemaligen Hilfspolizisten auch Mel'nyks Aufständischen an?

Nach dem Krieg ließ sich eine bedeutende Anzahl ukrainischer politischer Emigranten in Westeuropa, Nord- und Südamerika und Australien nieder. Unter ihnen befand sich eine große Zahl ehemaliger Mitglieder der OUN (m) und weitere Personen, die an ihren Aktivitäten beteiligt waren. Wie hat sich die Ideologie der OUN (m) nach dem Krieg verändert? Mit welchen Geheimdiensten arbeiteten Andrij Mel'nyk und seine Partei in dieser Zeit zusammen? Welche Beziehungen unterhielt die OUN (m) nach 1945 zu anderen politischen Gruppen ukrainischer Emigranten sowie zu jüdischen und polnischen Emigrantengemeinschaften im Westen?

Nach 1945 gelangten zahlreiche Ukrainer und Deutsche, die im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Achsenmächte gekämpft und am Holocaust beteiligt gewesen waren, nach Westeuropa, Nord- und Südamerika und Australien. Wie sah ihr weiteres Schicksal aus? Welche Haltung nahm die ukrainische und deutsche Diaspora gegenüber den Juden ein? Ich werde versuchen, diese Fragen durch die Analyse einiger neuer Quellen zu beantworten.